krakau
24.3.06
  Der zweite Koffer
Wolfgang ist bereits wieder verschwunden. So wie fast alles. Aus meinem Zimmer unter dem Dach. Er hat den zweiten Koffer mitgenommen. Randvoll. Und ihn dem Bauch einer orangefarbenen easyjet-Maschine übergeben.

Als Zusatzgepäck nahm er die Traurigkeit mit. In einem sehr unrentablen. Unfassbaren. Und ungezähmten. Metallkoffer. Mit Lebendgewicht. Schwiegermutter ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ihr Herz kann nicht mehr.

Meinem Großvater in Amerika geht es auch schlecht. Er ist mehrmals gestürzt. Hat sich Rippen gebrochen. Den Kopf aufgeschlagen.
Sein Puls hämmert ungestüm in den Schläfen.

Da hilft keine Widerrede. Übergewicht muss bezahlt werden. Alles muss bezahlt werden. Ein überfüllter Removakoffer genauso wie das Leben auf halben Touren. Wolfgangs Mutter, meine Schwiegermutter ist eine sogenannte „Trümmerfrau“. Sie gehört zu der Generation von Frauen, die nach dem Krieg zerbombte Städte von Trümmern leer räumten. Im konkreten wie im übertragenen Sinn. Sie gehört zu der Generation von Frauen, die immer irgendwie zurechtkommen mussten. Die nie ihre Kräfte schonten. Nie ausruhten. Wolfgangs Mutter kann nicht sagen, dass sie sich schlecht fühlt. Immer heißt es: „Das wird schon wieder!“ So war das vor fünf Jahren. Als sie den ersten Infarkt hatte. Und fand, das würde schon wieder. Ein Aspirin schluckte und sich hinlegte. Am nächsten Tag fuhr sie in einem überfüllten BVG-Bus zum Arzt. Immerhin. Der schickte sie sofort mit der Feuerwehr ins Krankenhaus. Auf die Intensivstation.
Es war nicht ganz zu spät. Aber ihr halbes Herz pumpt seither nicht mehr.
Und jetzt ist die andere Hälfte müde.
 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home

ARCHIVES
Oktober 2005 / November 2005 / Dezember 2005 / Januar 2006 / Februar 2006 / März 2006 /


Powered by Blogger