krakau
28.10.05
  Martin
Plötzlich tritt ein Martin nach dem anderen in mein Leben.

Letzte Woche, als ich morgens auf den Bus wartete, hing ein rosa Flugblatt an der Wand hinter der Bushaltestelle. Etwas schief. Mit gelbem Klebstreifen angebracht. Aber deutlich lesbar. Dass man sich ab sofort im Kulturklub Wola an der Königin Jadwiga-Straße 215 zu Chen Tai Ji Chuan-Kursen einschreiben könne. Ich stand ja auf der Königin Jadwiga-Straße. Und fühlte die bittere Morgenluft auf der Brust. Ich hatte aber keine Ahnung, auf welcher Höhe, unter welcher Nummer. Ich mich gerade befand. Eine Bushaltestelle ist kein Haus. Obwohl der Mensch da mittlerweile auch ein Dach über dem Kopf und eine Holzbank unter dem Hintern hat. Das Haltestellenhäuschen hingegen besitzt keine Hausnummer. Und dann erblickte ich plötzlich zum ersten Mal – wie oft wartete ich hier bereits auf den Bus? – auf der anderen Straßenseite zwei goldene Täfelchen mit den Nummern 211 und 209. Also kann die 215 nicht allzu weit entfernt sein. Ein Bus unterbrach meine numerologischen Betrachtungen. Überfüllt, schon zu dieser frühen Stunde, schwankte der 192-er vom Flughafen an den Straßenrand. Hielt einen Moment inne und nahm uns alle mit. Keuchte schwer und fuhr wieder los. Schon zu dieser frühen Stunde.

Am Abend ging ich mich erkundigen. Der Kulturklub öffnet erst um 15:00 Uhr. Ob ich zu einer Probestunde kommen könne. Und mich danach entscheiden. Ob ich mich für den Kurs einschreibe oder nicht. Japan hat mich Vorsicht gelehrt. In allen Lebensbereichen. Nicht nur in Bezug auf Tai Chi. Und man sagte mir, dass Martin das „Training“ leite, ein erfahrener Lehrer. Dienstags und donnerstags.

Ein ganz anderer Martin übersetzt einen Auszug meines Japanischen Tagebuchs ins Englische. Diese Notwendigkeit ergab sich hier plötzlich.

Und mein Bruder, auch Martin – hat heute Geburtstag. Er ist älter als ich, also kenne ich ihn, seit ich auf der Welt bin. Er vollendet genau in dieser Stunde, in diesem Moment sein erstes halbes Jahrhundert.

Gestern ging ich mutig zu dem mir bislang unbekannten Martin. Ich durchquerte den Park unter der Villa mit schnellen Schritten, denn es ist dunkel überall, dunkel überall. Und schon war ich da. Im ersten Stock des kleinen Landhauses. Etwas oberhalb der Haltestelle „Sielanka“ [Das (Dorf-)Idyll]. Unten spielte jemand Klavier. Ansonsten war es wohltuend still. Ich atmete auf. In Berlin versammeln sich die wunderlichsten Leute zum Tai Chi. Hauptsächlich fortgeschrittenen oder mittleren Alters. Die auf der Suche nach irgendetwas sind für ihre zweite, bessere Lebenshälfte. Ich weiß es selber nicht. Wonach wir alle suchen. Schauspieler. Musiker. Künstler. Tänzer. Schriftsteller. Journalisten. Lehrer (außer für Rockmusik, Blockflöte, Posaune oder Klavier auch für Mathematik und Chemie). Verleger. Fotografen. Und eine Richterin. Sie ist vielleicht die normalste von uns allen. An der Königin Jadwiga-Straße ist alles anders. Es kamen zwei Jungs. Einer mit einem langen, wunderschönen dunkelbraunen Zopf – ein schüchterner, etwas gehemmter Teenager, aber sehr aufmerksam. Der andere deutlich jünger. Rundlich. Ungeduldig. Ausgelassen. Sie haben schon drei sogenannte Trainingsstunden hinter sich. Das heißt, sie sind Anfänger. Und ich bin von der ersten Stunde an im Rückstand. Und die Älteste.

Das warme Gefühl blieb noch lange in den Knien, nachdem ich den dunklen Park wieder durchquert hatte. Lange hieß uns Martin nur stehen. In den ersten Qi gong-Stellungen. Der dicke Junge hielt das nicht aus. Aber er klagte nicht. Weinte nicht. Begehrte nicht auf. Martin berichtigte vorsichtig unsere Körperhaltungen. Richtete das Rückgrat gerade. Die Arme. Die Schultern. Die Hüften. Das Becken. Loslassen. Loslassen. Alles loslassen. Ich lerne bei der Gelegenheit die Wörter für jeden Körperteil. Die Form beginnt mit einem Schritt nach links. Ich war sprachlos. In Berlin geht der erste Schritt nach rechts. Nach Osten. Aber spielt es eine Rolle? Die verschiedenen Meister haben die Welt in verschiedene Zonen eingeteilt. Und damit ungesunde Rivalitäten im Kampf um die beschränkte Anzahl von Kunden unterbunden. Und so machen wir gehorsam den ersten Schritt nach links. Oder nach rechts. Um niemandem auf die Füße zu treten.

In diesem Land. Bin ich überall die Älteste. Im Bus. Auf der Straße. Im Kino. Auf dem Weg nach Hause. In der Villa. Im Theater. Im ersten Stock. In der Kneipe „der achte Tag der Woche”. Bei der Lesung mit dem diesjährigen Nike-Preisträger. Auf der Buchmesse. Auf dem Fahrrad. An der Rudawa. An der Weichsel. In der Straßenbahn. Unter dem Wawel. Bei Polakowski.

Jetzt warte ich auf den vierten Martin. Den neuesten Stipendiaten in der Villa. Er wird mich erlösen. Denn er ist älter als mein Bruder. Schon in wenigen Tagen oder wenigen Stunden.
 
26.10.05
  Die Welt in schwarz und in weiß

Wir führen ein Pinguinleben. Im Rhythmus regelmäßiger Trennungen. W. kam angeflogen. Und ist schon wieder weggeflogen. Er kann, wie gesagt, im Gegensatz zu fluguntauglichen Vögeln problemlos fliegen. Mich hingegen quält der erste herbstliche Schnupfen. Und ich verstehe gewisse Präfixe im Polnischen nicht. Warum beispielsweise „gelandet“ und „gestartet“ auf den Anzeigetafeln (und überall sonst, wo Schrift existiert) mit der gleichen Vorsilbe „wy" gebildet werden („wystartował”, „wylądował”). Aber jetzt sehe ich, dass das im Deutschen genauso ist. Obwohl es auch hier für ankommen, anreisen, Einreise usw. andere Vorsilben gibt. Wie auch immer. W. ist in einer orangefarbenen easy-jet-Maschine „gestartet” und hat mir so seinen schwarzen Rücken zugekehrt. Und wie bei den Kaiserpinguinen dauert es zwei Monate, bis wir uns wieder sehen. Und er mir mit seinem weißen Bauch entgegenkommt.

Vom Flughafen fahre ich direkt zu meiner zweiten Polnischstunde. Hier werden die grauen Zellen aufgefrischt. Und das Hirn bekommt Nahrung. Die weiße Seite der Welt.

Danach direkt nach Kazimierz. Der Himmel glüht im Westen. Zur literarischen Namenstagsperformance zweier Nazar. Des einen Nazar, der bei uns in der Villa wohnt. Und eines anderen. Pinguinleben. Die Bar ist schwarz wie die Nacht. Die Sprachen wirbeln in Pfeifenrauchschwaden wie die Engel auf biblischen Wölkchen. Ukrainisch. Russisch. Polnisch. Deutsch. Englisch. Am besten gefällt mir die poetische Phrase unseres Nazar, die er in allen verfügbaren Sprachen vorträgt: „Gott ist ein unbestimmtes Fürwort.”

Und deshalb müssen sich Pinguine unter solch widrigen Umständen lieben, begatten und ernähren.
 
25.10.05
  Die Reise der Pinguine

Wolfgang kam und brachte mir verschiedene seltsame Dinge mit. Aus Berlin. Stapel alter Zeitungen. Aus einer anderen Welt.

Dann fuhren wir Straßenbahn. Es zog uns ins Kino. Wir wollten den Film „Der Marsch der Pinguinie“ sehen. Seit einiger Zeit bin ich Pinguinverrückt. Und finde, dass wir viel zu wenig an Pinguine denken, über sie sprechen. Sie sind uns gleichgültig. Die Welt funktioniert bestens ohne sie. Zum Beispiel gibt es kaum Kinderspielzeug in Form von Pinguinen. Es ist mir bis heute nicht gelungen, einen Quietschepinguin aus Plastik für die Badewanne zu kaufen, der einen typischen Piguinlaut von sich gibt, wenn das Kind ihn in seiner kleinen Faust einschließt. Es gibt nur gelbe Quietscheentchen. Und die Kinder lernen in ihren ersten Badetagen, dass in der Badewanne nur eine Waltdisneyente schwimmen kann. Ich wünsche mir einen Badewannenpinguin. Obwohl ich weder ein Kind bin noch eines habe. Noch zur Zeit in der Villa in einer Badewanne baden kann. Aber ich habe eine Engelin mit Gießkanne. Pinguine sind fluguntaugliche Vögel. Sie rudern mit den Flügeln im antarktischen Meer und steuern mit den kurzen Beinen und den Schwimmflossen zwischen den Zehen. Meine Krakauer Engelin kann auch nicht fliegen. Sie hängt hier über mir, unter dem Dach, und scheint ganz zufrieden zu sein. Sie schreitet eher durch die Luft. Mit entschiedenen Schritten. Beinen. Marschiert sie. In ihren Filzstiefeln. Als dass sie schwebt. Auf Flügeln.

Wir fuhren also mit der Straßenbahn. Mit der Nummer 1. Im Rucksack saß mein Pinguin. Mein kleiner weicher Stoffpinguin, den ich vor einigen Jahren geschenkt bekam. In London. Im Naturkundemuseum. An der Themse. Von eben jenem Wolfgang. Mit dem alles begann. Und jetzt fahren wir zusammen ins Kino. In eine unwirtliche Welt. An einen Unort. In ein riesiges Einkaufszentrum. Mit Geschäften, die überall anzutreffen sind. Mit Fressbuden, die überall anzutreffen sind. Mit Kinos, die überall anzutreffen sind. Mit Filmen, Waren, Bigmacs, Imax’s, None’s ... Ein französischer Film, synchronisierte Version. Also polnisch. Wolfgang ist begeistert. Die Sprache wird ihn nicht berühren. Er las in der Zeitung, während er nach Krakau flog (Wolfgang kann im Gegensatz zu den Pinguinen fliegen), dass die Bilder schön sind und der Text dumm. Dass die Wörter eine rührselige Hollywoodstory erzählen wollen.

Ein leerer Saal. Gut gekühlt. Am Anfang sitzen nur wir drei drin. Dann kommt noch eine Familie mit einem richtigen Kind. Und tatsächlich – die Wörter, die synchronisierten Texte unter den Bildern, versuchen eine menschliche Liebesgeschichte zu bilden. Mit der langen, auszehrenden Reise am Anfang, einem zweihundertkilometerlangen Marsch zum Brutplatz, mit anschließendem Liebestanz, Liebesgesang, Liebesberührung, Liebeserfüllung, dem Versprechen ewiger Treue, mit dem Warten auf das Ei, mit der rituellen Übergabe des Eis an den Vater, der es ausbrütet, austrägt, in der unteren Bauchfalte. Und schon müssen sich die Liebenden trennen. Die Mutter watschelt zurück zum Eismeer, denn sie ist hungrig und erschöpft. Sie kehrt nach zwei Monaten zurück, um das Küken zu füttern und den ausgehungerten Vater abzulösen. Angeblich – so sagen es die Wörter, nicht die Bilder – erkennen die Mütter in der Ansammlung von einigen Tausend Pinguinen ohne Probleme den richtigen Partner und das eigene Küken, das während ihrer Abwesenheit aus dem Ei geschlüpft ist. Christliche Tugenden in der Antarktis. Und so weiter. Der Vater wankt von dannen, denn nun braucht er dringend Nahrung. Die Weisheit der Pinguinküken gipfelt in der Feststellung, dass die Welt aus einer schwarzen Seite und einer weißen Seite besteht. Die schwarze Seite bedeutet Abschied, Trennung, Schmerz. Und die weiße Seite bedeutet Rückkehr. Vereinigung. Im Kreis der Familie.
Dies ist eine poetische Sicht der Welt. Und die Poesie ist menschlichen Geschlechts. So wie der Kitsch. Oder die Romantik. Ich bin mir nicht sicher, ob auf dem antarktischen Packeis Zeit für Poesie ist. Oder Platz für einen malerischen Sonnenuntergang. Dort geht es eher um Leben oder Tod. Ausschließlich. Um Hunger und Futter. Um nichts anderes. Um Wärme und Kälte. Um Widerstandsfähigkeit. Wie viel Zeit verbringen Kaiserpinguine in ihrem Leben mit untätigem Warten. Auch Langeweile ist menschlichen Geschlechts.

Wir hingegen kehren in die Normalität zurück. In der Nacht. Mit unserem kleinen weichen Pinguin im Rucksack.
 
21.10.05
  Polnischstunde
Heute früh um neun hatte ich die erste Polnischstunde – die erste seit sicher zwanzig Jahren! Wann genau ich aufhörte, Stunden zu nehmen und einen Lehrer zu haben, weiß ich nicht mehr. Auch nicht, wann genau ich anfing. Vielleicht 81 oder 82. Sass ich im Kurs von Felek. In einem stickigen Vorlesungssaal der Universität Basel. Ich verstand nichts. Überhaupt nichts. Felek schrieb uns stundenlang Ausnahmen an die Tafel. Und ließ sie uns abschreiben, Ins Heft. In den Kopf. Ins Gedächtnis. Damals gab es noch nicht einmal Computer. Die Augen brannten. Von solchen und anderen Ausnahmen. Der Hals brannte. Von Zisch- und anderen Lauten. Felek war stolz (und ist es wahrscheinlich immer noch), dass er mehr Ausnahmen kannte als die Polen selbst. Felek verdanke ich viele Dinge in meinem Leben. Wirklich. Aber nicht meine polnischen Sprachkenntnisse. Felek verdanke ich fast alles, mit Ausnahme der Sprache. Felek schickte damals uns alle, die sich mit der Absicht trugen, nach Polen zu fahren, für längere oder kürzere Zeit, zu den Krakowskis in Krakau. Und so klopfte auch ich eines Tages zum ersten Mal an die Tür an jener und keiner anderen Straße in Krakau und behauptete in gebrochenem Polnisch, dass mich Felek schicke … Und das genügte. Für alles und für immer. Seit Oktober 83 studierte ich in Warschau. Ja. Und besuchte regelmäßig die Kurse am Polonicum. Bei einem Mann, dessen Gesicht ich deutlich vor mir sehe, dessen Name sich aber nicht mehr verbalisieren will. Sprachkurse für Ausländer. Damals brachte ich kaum einen Satz über die Lippen. Ich kam am Namenstag von Tadeusz in Warschau an. Das wusste ich damals so wenig wie alle anderen Dinge. Nach 85 hatte ich bestimmt nie wieder einen Lehrer, noch eine Stunde – bis heute früh um neun Uhr. Mathematisch gesehen, heißt das, dass ich zwei, drei, höchstens vier Jahre Polnisch lernte. Und ich habe die Frechheit, zu schreiben. In dieser Sprache.

In der Nacht träumte ich zum ersten Mal. Die Engelin wachte, wie immer. Unter dem Dach. Mit der vollen Gießkanne in der linken Hand. Seit ich hier bin, habe ich einen leichten Schlaf. Locker wie frischer Schnee. Betäubend wie Watte. Farblos. Ohne Alltäglichkeiten. Ohne Verletzung, Hysterie, Neid, Aggression. Heute wachte ich auf und wusste sofort, dass ich zum ersten Mal geräumt hatte, dass es mich gibt. Der Traum präsentierte mir ein deutliches Bild aus den ersten Tagen, als ob dies das wichtigste Moment meines Krakauer Lebens wäre, und brachte darüber hinaus alle Gefühle, Welten und Zeiten durcheinander.

Jetzt lerne ich. Alles, ich nicht Felek verdanke. Im vorletzten (polnischen) Blogeintrag sollte ich vielleicht das Wort „ochronę” durch „borowiki” ersetzen. Aber wer weiß, ob das nicht wieder anders herum unkorrekt ist. Und irgendwann in der Zukunft werde ich mich der unübersetzbaren Poetik von „powsinoga“ oder „drapichrust“ annehmen müssen.
 
18.10.05
  Nach dem Vollmond
Seit gestern lese ich im Bus. Das heißt, ich bin nicht mehr immer auf der Hut. Wie ein verwundetes Tier.
Seit heute steige ich um. Unbekümmert. Vom Bus in die Straßenbahn. Oder nehme an der Haltestelle „Sielanka” [Das (Dorf-)Idyll] den leeren 134 (er brachte die erste Fuhre Kinder in den Zoologischen Garten und holt jetzt neue Passagiere aus der Stadt). Mutig. Statt auf den überfüllten 192 vom Flughafen zu warten.

Gestern lärmte der Gärtner mit seinem an den schweren Rucksack montierten Schlauch erbärmlich. Den lieben langen Tag. Pustete er rund um die Villa alle Blumenbeete, Rosenrabatte, Gehwege, Fahrwege, Parkplätze und Rasenflächen frei von dem Ballast, den die müden Buchen übers Wochenende abgeworfen hatten. Und da es die letzten Nächte nieselte, ging ihm das nicht mehr so einfach von der Hand. Feuchtigkeit. Fäule. Nässe. Schwere. Er schleppte tatsächlich den entsetzlich röhrenden Motor auf dem Rücken herum. Von früh bis spät. Ich wollte sichergehen. Und schlich ihm nach. Er bemerkte mich nicht. Er hörte nichts. Weder hupende Autos noch tapsende Bären. Auf seinen Ohren lagen Schoner. Dicke. Goldgelbe, Wie riesige Sonnenblumen. Zu beiden Seiten des Kopfes.
Heute ist es totenstill. Ich sitze mit Nazar, dem Dichterperformer aus Lemberg, in der Küche. Er trinkt Kaffee. Ich Kräutertee.
„Der Gärtner hat heute wohl frei”, sage ich. Um irgendetwas zu sagen.
„Nein”, widerspricht Nazar. Entschieden. „Er arbeitet. Ich beobachte ihn von meinem Zimmer aus. Er hat alle faulen Blätter auf einen großen Haufen geblasen. Jetzt zieht er sie auf eine kilometerlange Nylonschnur auf. Die spannt er durch alle Bäume im Park. Hängt Blätter auf wie wir tropfende Wäsche. An die Sonne. Zum Trocknen.“

Gestern Nachmittag im Kino Ars „Lawa”. Mit etwa fünf anderen Verlorenen Seelen. Der Film hat mich sehr angestrengt. Auch der Vollmond. Und meine Tage. Das ist mir wieder einmal wunderbar gelungen. Das erste Kopfweh in Krakau. Lawa ist der letzte Film, den Konwicki gemacht hat. Regie geführt. Drehbuch geschrieben. Gustaw Holoubek spielt den alten Visionär und Dichter (denselben, der momentan auf dem Krakauer Marktplatz so einsam ist), der nach Litauen zurückkehrt. Wie jung der Schauspieler in dieser Rolle aussieht.
Heute denke ich den ganzen Tag darüber nach, warum der letzte Film von Konwicki (Lawa) so gänzlich anders ist – eine ganz andere Art von künstlerischem Resümee sozusagen – als das letzte Buch von Konwicki (Pamflet na siebie – Pamphlet über mich selbst). Und warum denke ich darüber nach? Es gibt hier ganz und gar nichts zu vergleichen. Was hat das zu bedeuten?
 
15.10.05
  Blaues Tal


Foto: © W.M. Krakowski

Frau Krakowska und ich im Herbst. Aufstieg durch das blaue Tal. Das Foto "wir oben angekommen" befindet sich im polnischen Blog.
 
14.10.05
  Niedzica
Herr Krakowski rief an, als ich im EMPiK* stand, im Erdgeschoss, in der Abteilung Ausländische Presserzeugnisse, neben der Kasse.
„Fährst du mit nach Niedzica?” fragte er.
Typisch Herr Krakowski!

Freitag, halb fünf nachmittags, dichter Sprühregen über die Stadt, und ich bin verabredet mit einem Menschen, den ich noch nie im Leben gesehen habe. Ich kenne nur seinen Namen: Ernst. Herr Ernst verspätet sich offenbar. Aber das ist normal in diesem Land. Sogar unter Ausländern. Wir akklimatisieren uns schnell. Ich bin verabredet mit Herrn Ernst. Aus Rücksicht auf das Wetter im Erdgeschoss von EMPiK und nicht vor der Marienkirche. In der Abteilung Ausländische Presserzeugnisse. Wo immer ein furchtbares Gedränge herrscht. Neben der Kasse. Wo die Leute dicht hintereinander anstehen. Ich fühle mich hier nicht wohl. Lesen mag ich nicht. Weder den Spiegel, noch den Stern. Es gibt eine sogenannte goldene Regel (meine eigenen Erfahrungen haben sie aufgestellt): wartest du am Bahnhof auf eine bekannte oder unbekannte Person, dann setzt dich nie auf eine Bank! In der Menge wird man dich weder finden noch erkennen. Warten ist keine passive Tätigkeit. Sondern eine aktive. Ein sitzender Mensch sieht nicht danach aus, als würde er etwas oder jemanden erwarten. Ein sitzender Mensch weiß meistens nicht, was mit sich selbst und der dazu gewonnenen Zeit anfangen. Am Bahnhof. Während er auf den Zug wartet, der eineinhalb Stunden verspätet eintrifft. Zum Beispiel. Übertragen wir das Muster des Wartens vom Bahnhof auf die Abteilung Ausländische Presseerzeugnisse im Krakauer EMPiK: versinke nicht in einem Text! Hinter den Zeitungsseiten wirst du unsichtbar. Unbemerkbar. Hörst sofort auf zu existieren. Am Bahnhof gelingt das Warten entschieden besser. Denn dort gehört es hin. Im EMPiK hingegen, am Freitagnachmittag, während es draußen nieselt, wirkt das Warten – und dazu noch auf Herrn Ernst – in vielerlei Hinsicht verdächtig. Nicht nur, dass ich andauernd jemanden anremple, stoße, berühre, andauernd jemandem den Griff zur Zeitung oder zum Geldbeutel versperre. Sondern der Sicherheitsdienst. Beobachtet mich mit scharfen Blicken. Registriert genau jede meiner Bewegungen. Jeden meiner unsicheren Schritte. Und sieht, dass ich weder lese noch kaufe. Nur schaue. Beobachte. Rund herum. Das ist schließlich seine Aufgabe, nicht meine! Mein Mobiltelefon meldet sich. Der Mann vom Dienst hört mit, ohne Anstrengung. Jedes Wort.

„Ich stehe hier und warte auf jemanden, den ich nicht kenne. Im Ernst.”
„Ohohooo!”, grinst Herr Krakowski in meinem linken Ohr. Weit und Breit.
„Was für eine Überraschung …”
„Wir wussten selber nicht, ob ...“
„Kein Problem. Nur ...
„Es geht auch später. Um Mitternacht.”
„... ich muss ihn zuerst treffen. Erkennen. Im Ernst. Herrn Ernst. Ich ruf dich in einer Stunde zurück.“
„Okey.”

Natürlich fuhr ich mit. Mit Herrn Krakowski und Frau Krakowska.
Sie holten mich in der Villa ab nach acht. Und ab ging’s nach Niedzica.

Fortsetzung folgt

* EMPiK = größte Buchhandelskette in Polen
 
13.10.05
  Der Dreizehnte
Nachmittags fängt es an zu regnen. Leichtes Nieseln. Bedeckt dann die ganze Nacht.

Am Abend im Kino Ars, im Reduta-Saal. Dies ist der einzige Kinosaal in Polen (oder auf der ganzen Welt?), in dem weder gegessen noch getrunken werden darf. „Schau dir den Film in Ruhe an” – so wirbt das Kino mit diesem einen Saal. Das heißt: ohne Popcornkauen, ohne Bierrülpser, ohne Flaschenklirren.
In solcher Ruhe verlief die Veranstaltung unter dem Titel „Mein Konwicki: Inspiration und Interpretation.” Erstklassige Gesprächspartner. Gießen sich gegenseitig klares Wasser aus einer Karaffe ein. Sie dürfen. Denn sie müssen reden. Ins Mikrophon. Wajda. Lubelski. Trzaskalski. Und der Direktor. Des Kinos? Eher des Buchinstituts, das diese, sowie andere Veranstaltung organisiert. Konwicki ist nicht da.
„Aus gesundheitlichen Gründen”, erklärte der Mann, den der Chairman mit „Herrn Direktor” anspricht.
Vielleicht stimmt das sogar. Gestern sprach ich mit meinem Meister. Er schien, für sein Alter, ganz gesund. Aber jeder weiß, dass er abergläubisch ist. Und an einem Dreizehnten nie im Leben in einen Zug steigt.

„Mein Konwicki” – das ist meine Erfindung. Das ist der Titel meines Buches. So wie „Zwierzoczłekoupiór” (der Erfinderhund) die Erfindung Konwickis ist. Und gleichzeitig der Titel seines Romans ist. Und so weiter. Jeder von uns besitzt etwas. Und trägt es bei. Zum populärwissenschaftlichen geistigen Eigentum.

Das Gespräch verläuft ausgesprochen freundlich, soweit es meinen Meister betrifft. Wajda stellt gleich zu Beginn klar, dass Konwicki durch nichts ersetzt werden könne. Durch keinem Stellvertreter. Mit keiner Anekdote. Keinem einzigen Scherz. Keiner noch so langen Aufzählung all seiner Verdienste. Er ist nicht da, und das ist schade! Denn er fehlt uns hier. Dann gesteht er, später, spontan, im Laufe des Gesprächs, ein, dass sich immer alle vor ihm gefürchtet hätten. Und immer noch fürchten. Fügt er nach kurzem Schweigen hinzu. Und ich fühle mich plötzlich unter meinesgleichen.

Während der Pause gelingt es mir, Herrn Wajdas Hand zu drücken. Und ihm zu danken für die feinfühligen Worte. Und mich vorzustellen als Autorin des Buches, das ich die ganze Zeit in der Hand halte. „Mein Konwicki”.
„Mein Konwicki?” wundert er sich. „Dieses Buch kenne ich ja gar nicht.”
Vielleicht stimmt das sogar. Ich weiß, dass die Auflage vergriffen ist. Und dies ist mein persönliches Exemplar, das ich nicht einmal Ihnen schenken kann. Leider.

Dann verschwinden die Gesprächspartner im Dunkel. Und über die Leinwand läuft „Der letzte Sommertag“, schwarz-weiß, asketisch, 1958 an der Ostsee gedreht. Irena Laskowska, die Hauptdarstellerin, traf ich zufällig im Mai in Warschau. Dank der Einladung von Krystyna H. Zu einem exzellenten Brunch im Hotel Polonia. Sie schämte sich sehr, als ich ihr erzählte, dass ich sie aus dem “Letzten Sommertag“ kenne. Mit beiden Händen bedeckte sie ihr Gesicht.

Die Stadt ist ganz nass. Mein letzter Bus fährt an Werktagen um 22:40 Uhr vom Matejko-Platz los.
 
11.10.05
  Handschuhe
In der Früh Nebel. Die Hände erstarren während meiner Übungen im Park. Ab morgen werde ich nur noch mit Handschuhen mein Zimmer verlassen.

Am Mittag Sonne. Mittagessen mit R. Nach dem Tee zeigt sie mir, wo ihre Katze begraben ist. Nicht der Hund. Sie hatte ihre Katze mitgenommen, als sie ihr Stipendium in der Villa antrat. Vor Jahren. Und die alte Katze starb in Krakau. Lieber so, tröstete ich sie damals, als anders. Stell dir vor, was geschehen wäre, wenn die Katze hätte in Berlin bleiben müssen.

Zum ersten Mal fährt mir ein leichter Schauer über den Rücken. Verstört. Überlege ich mir, im Gespräch mit R., bei Bigos und Fisch, was ich hier eigentlich zu tun habe. Ohne Katze. In Handschuhen. Im Zimmer unter dem Dach. Ich wollte immer schon unter dem Dach wohnen. Eine neue Prosa beginnen. Poetische Prosa. Mein Gott, was soll das heißen? Reine Langeweile. Oder – um Konwicki zu zitieren „das nächste Buch, das keiner braucht“. R. versichert mir, dass die Zeit schnell vergeht. Und wohin? Wohin? Wohin? Sanatoriumsbelletristik. Zauberberg. Seit gestern steht auf dem Parkplatz vor der Villa ein altmodisches weißes Auto mit Schweizer Nummernschild. BL 153 83. Es ist ein Auto aus meinem Heimathalbkanton Basellandschaft, das sehe ich. Das heißt aus der Landschaft rund um die Stadt Basel herum. Und wohin? Wohin? Wohin?

Es gelang mit, einen eingeschriebenen Brief abzuschicken. Von der Post an der Straße, die nach der Königin Jadwiga benannt ist. Und eine Zweimonatskarte für alle Nacht- und Tageslinien von Bus und Tram zu kaufen, ohne Schlange zu stehen. Nun fühle ich mich als vollwertige Bewohnerin dieser Stadt. Als Belohnung holte ich mir am Kiosk die „Wróżka” [Die Wahrsagerin]. Den ganzen Oktober werde ich gesund, reich und glücklich sein! Ich habe nur dunkelrote, dh sehr positive Herzchen, Dollarzeichen und Sonnenstrahlen. R. übrigens auch, denn das war heute unser Geburtstagsschmaus.

Der Nebel kehrt gegen Abend zurück. Woher nur? Woher? Woher? Ich liebe die schwere Nachtluft. Im Radio Zeit für Jazz.
 
10.10.05
  Die Sprache
Montag – und in Japan Feiertag. Bei uns auch. Aber wo ist das? Bei uns? Der allerliebste rundliche Berliner wacht in Stralsund auf, während ich mich in Gorlice bereits auf einen der letzten Sitzplätze im Privatbus quetsche, der uns fürsorglich nach Krakau bringen wird. Um 11 Uhr sitze ich an meinem Computer am Schreibtisch unter dem Dach. Wenige Minuten später klingelt mein Zimmertelefon. Wir feiern 142 Monate Ehe, d.h. wie gehabt 142 Monde. Am Abend hängt über dem Krakauer Marktplatz der Halbmond. Einen ganz kurzen Augenblick nur zeigt er sich, während ich an der Ecke der Schuhmacherstraße auf A. warte.

Der japanische Abreißkalender ist mit mir nach Krakau gekommen. Der Kalender für nur einen Tag. Für jeweils den heutigen. Die Zeit fällt von ihm ab, wie die bunten Blätter von den Bäumen im Park. Jeden Tag befreie ich ihn vom gestrigen, dünnen, durchsichtigen, schmalgesichtigen Papierchen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Das heutige Kalenderblatt zeigt eine rote Zehn. Also Montag, der Zehnte des laufenden Monats – und Feiertag. In Japan.

Die Sprache hat bereits gewonnen. Ich schreibe, denke, spreche, schweige, schlafe polnisch. Und übersetze ins Deutsche. Alles. Träume. Staunen. Ungeschickte Sätze. In Kwiatonowice rechte ich flüsterndes Laub unter dem alten Kastanienbaum zusammen. Auch er ließ seine unhaltbar gewordenen Früchte auf meinen Kopf platzen. Aus Trotz sammelte ich sie ein, einen ganzen Korb voll, schüttete sie in meinen Rucksatz. Und trug sie in mein Zimmer unter dem Dach. Brachte sie meiner Engelin und Wasserspenderin als Opfer dar.

Ich verstehe, zum Beispiel, nicht die grammatische Logik in folgendem Satz: „Badacze stosujący metodę biograficzną zwracają uwagę, że dzienniki osobiste są materiałem trudnym do pozyskania.” (wörtlich und unschön: Die biographische Methode anwendenden Forscher weisen darauf hin, dass persönliche Tagebücher schwer zu beschaffende Untersuchungsmaterialien sind.). Das Problem besteht nur in den beiden ersten Wörtern des polnischen Satzes. „Badacze” (Forscher) ist in meinem Grammatikverständnis ein Substantiv im Plural, „stosujący” (anwendend) hingegen eine Verbform (oder eine Adjektivform, weiß der Teufel, hier liegt wahrscheinlich der Hund begraben) im Singular. Mein höchstpersönliches Montagsrätsel: Warum ist das so?

Ich bat Kasper – wen sonst hätte ich in diesem Land bitten können? – mir einen Polnischlehrer oder eine Polnischlehrerin zu besorgen.
 
9.10.05
  Kwiatonowice
Ich schreibe mit geschwellter Brust. Mit gestelzten Wörtern. In Kwiatonowice befinden wir uns über dem Herbstnebel. Hochtrabende Gedanken. Hier bin ich näher am Himmel als in meinem Krakauer Dachzimmer. Näher der Sonne als irgendwo auf der Welt.

Ich kam vorgestern, nachdem ich bei Frau Krakowska zu Mittag gegessen hatte (fürstlich: Fisch mit grünen Nudeln in Form von Herbstblättern), mit Stasiuk hier an. Und werde morgen, dessen bin ich mir ganz sicher, mit Malicki zurückkehren. Natürlich mit den Büchern dieser beiden Herren. Malicki schreibt so, wie ich nicht darf – nach Meinung meiner gestrengen Korrektoren Maria K. aus Schöneberg in Berlin. Ein Beispiel. „Dziwny naród, ci gruźlicy. Mówiłam. Czarodziejska góra. Dziewczyny. Pobudliwe. Nad. Tak. Był też radiowęzeł. ...” (s. 115 – in meiner Übersetzung: „Ein seltsames Volk, diese Tuberkulösen. Wie gesagt. Zauberberg. Mädchen. Empfindlich. Über. Ja. Es gab dort auch eine Drahtfunkzentrale ...”). Oder: „Byłem biało-czerwony. Mały Polak. Usiany bąblami. Tak. Wiem. Opowiadał tę historię dr Flisikowski, ilekroć nas odwiedzał. ...” (s. 62 – dito: „Ich war weiß-rot. Ein kleiner Pole. Übersät von Bläschen. Ja. Ich weiß. Diese Geschichte erzählte Dr. Flisikowski jedesmal, wenn er uns besuchte. …“ ) Und: „Wszedł pod stół i wydłubał. Tak. Wtedy. Stąd spirytus. ...” (s. 86 – dito: „Er kroch unter den Tisch und klaubte etwas hervor. Ja. Damals. Daher der Spiritus. ...”). So genannte Einwortsätze. Oder, einfacher ausgedrückt, übermäßiger Gebrauch von Punkten. Schreiben mit Hilfe von Interpunktionen.

„Wenn dir das jemand zu normalen Sätzen zusammenfügt, dann schreibst du ein durchaus schönes Polnisch”, seufzte die Berliner Maria und ließ alle Punkte, Kommas, Gedankenstriche, Ausrufezeichen usw. stehen.

Kasper will Pilze sammeln gehen. Wir fahren in das Land der Lemken. Dort verabschiedet sich mein Mobiltelefon. Kasper versucht aus dem Wald mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich stehe vor der Holzkirche in Kwiatoń. Sie riecht wunderbar in der Sonntagssonne. Wie still es hier ist. Denke ich. Während Magda erfährt, dass sie aus verschiedenen Gründen geschlossen sei (Renovierung, Diebstähle, der Priester hält gerade eine Heilige Messe im Nachbardorf ab, Gerüste usw.). Und Kasper das Signal empfängt „kein Anschluss unter dieser Nummer”.

Was bedeutet das, dass wir uns über dem Herbstnebel befinden? Wir ertrinken in den Farben des Waldes. Im Glanz der Sonne. Des Himmels. Des Autodaches. Wir leben in einer beweglichen Welt. Alles ist hier. Schreibe ich mit geschwellter Brust.
 
7.10.05
  Radio
Im Zimmer unter dem Dach ist es sehr still. Obwohl frühmorgens die Gärtner den Park säubern. Bäume beschneiden. Laub wegpusten. Mit einem dröhnenden Schlauch, der nicht saugt, wie der Staubsauger zu Hause, sondern bläst. Aber mir ist es im Zimmer mit der Engelin, die kein Wort von sich gibt, mit ihrer Gießkanne voll Regenwasser in der linken Hand, viel zu still.

Ich rief Frau Krakowska an – wen sonst hätte ich in Krakau anrufen können? Und fragte, ob sie nicht zufällig ein Radio habe, das keiner brauche. Das sie mir für drei Monate ausleihen könnte.

Sie hat und kann. Brachte es mir am Morgen in die Villa. Ein Radio ans Bett. Mit Wecker. Alarm. Buzzer. Slumber. Und verschiedenen Programmen. Ich durfte keines hören. Sie nahm mich mit. Zurück in die Stadt. Zum Essen. Einkaufen. Teetrinken. Eben typisch Frau Krakowska.

Am Nachmittag wollte ich nach Kwiatonowice fahren. Der Busbahnhof befindet sich wegen Bauarbeiten nun an der Nullo- oder Zistersienserstraße. Direkt vor dem Haus von Frau Krakowska.
 
5.10.05
  Engelin mit Gießkanne
Ich habe eine Engelin geschenkt bekommen. Sie fiel wie Manna vom Himmel. Die Krakauer Engelin mit Gießkanne. Sie ist keine ätherische Gestalt. Sondern verfügt über ausgeprägt weibliche Attribute. Trägt ein geblümtes Kleid und eine Schürze mit riesigen Taschen. In der linken Hand hält sie eine Gießkanne. Meine Engelin ist Linkshänderin. Auf den Rücken geschnallt, wie ein überdimensionierter Rucksack, wie eine Fallschirmspringerin, Flügel aus grobem Leinen.

Nun schützt mich die Krakauer Engelin mit Gießkanne. Sie bewacht mein Fenster, das nicht Teil der Wand ist, sondern des Daches. Mein Fenster zum Himmel. Ich wohne unter dem Dach. In der Früh wache ich auf und starre in den Himmel. Tagsüber schreibe ich und starre in den Himmel. Ich denke und starre in den Himmel. Schweige und starre in den Himmel.

Die Engelin gießt meine Gedanken wie Frühlingsregen. Der Baum, der über das Haus und über mein Vorstellungsvermögen hinaus gewachsen ist, wirft seine dürren Blätter ab. Auf mich. Und in der Nacht seine ungenießbaren schweren Früchte.
 
2.10.05
  Angekommen
Ich bin in Krakau angekommen. Mein erster Eindruck: der Geruch der Erde. Als ich vor der Villa Decius stand und in den Abendhimmel guckte. Feuchte Erde in der Nase. Und Herbstlaub auf der Gesichtshaut. Vor Jahren kam ich ähnlich, wenn auch ganz anders, irgendeinmal zum ersten Mal in den Tropen an. Das war mein erster Gedanke. In Krakau.

Die Erschöpfung der Ankunft ist in einer Nacht nicht wegzuschlafen. In der Früh suchte ich den Nebel im Park, fand Chopin in Bronze und absolvierte mein erstes Tai Chi auf holprigem Waldboden. Danach rückte ich Möbel, fand Kabel, war plötzlich im Internet und schon auf dem Fahrrad in die Stadt.

Hunger. Mittagessen. Pierogi und Surówka. Der halbe Marktplatz ist aufgerissen. Mickiewicz, der Dichter, steht verloren zwischen aufgetürmten neuen Steinen. Das Gedrängel auf der bereits „modernisierten“ anderen Hälfte ist riesengroß.

Meine Sprache holpert. Wie der Herbstboden unter den Stadtschuhen. Wie der Krakauer Marktplatz.

Noch ein paar Stunden, und das Polnische hat mich. Ich wohne unter dem Dach und höre die Kastanien von den Bäumen fallen.
 

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